Lernen in Indien - eine Kuriosität

Seit meiner Ankunft wollte ich schon über dieses Thema schreiben. Es war schwierig zu verstehen, aber ich habe viel beobachtet, mich bei anderen Lehrern in den Unterricht gesetzt und nachgefragt. Nun möchte ich berichten:

 

Prinzipiell basiert alles auf auswendig lernen. So richtig auswendig lernen. Die Texte aus dem Buch Wort für Wort wiedergeben. In den Examen antworten die Kinder nicht mit selbst formulierten Sätzen. In der Regel lernen sie die Fragen vorher auswendig und geben in der Arbeit die jeweilige Antwort (manchmal ganze Absätze oder mehrere Seiten) aus ihrem Lehrbuch wieder. Einige Lehrer geben Punktabzug, wenn Sätze umformuliert wurden.

Die Drittklässler können schon das große 1x1. Sie lernen es folgendermaßen:

1x14=14

2x14=28

3x14=42

Sie stellen sich einzeln vor den Mathelehrer und sagen alles auf. Wenn ich sie dann frage:

„Wie viel ist 7x14?“, dann gehen sie die ganze Reihe in ihrem Kopf durch…Das kann ganz schön lange dauern. Irgendwann finden sie vielleicht die richtige Antwort. WARUM 7x14=98 ist, wissen sie leider nicht.


Im Englischunterricht lernen die Jüngsten das Alphabet. Sie können es im Schlaf aufsagen. Wenn ich ihnen ein N an die Tafel male, kann es für sie sehr schwierig sein es als N zu identifizieren. Die haben schließlich nur die Reihe gelernt: A B C D E ...

Das wird zum Problem, wenn sie schreiben lernen. Die Schüler kennen den Buchstaben N unter „yen“ (da man die Laute von der einheimischen Sprache Kannada übernimmt, lernen sie manches mit einem Y-Laut davor). So wird auf dem S ein „yes“, F wird zu „yef“ und H zu „Yetsh“. Der indische Akzent ist ja an sich nicht schlimm, nur bringen die Lehrer den Kindern nicht die Laute bei. Alle wissen, wie man „house“ schreibt: „Yetsch, Yo, Yu, Yes“. Dass das „Yetsch“ wie ein „h“ ausgesprochen wird, geht an vielen vorbei. Sie lernen JEDES Wort zu buchstabieren. Sie buchstabieren in einem Tempo… Daneben sehe ich ganz schön lahm aus. Ich schreibe an: „Table“ Antwort: „Ti,Yey,Bi,Yel,I“. Danach „Chair“ Antwort: „ßi,Yetsch, Yey, Ei, Ar!“. Tja, jetzt ist da ein unbekanntes Wort. Die Buchstabenreihe „Ti, Yo, Yem, Yey, Ti, Yo“ kennen sie nicht. Wie sollen sie darauf kommen, dass man das Wort als „tomato“ ausspricht? Doch über die Jahre hinweg verstehen sie es scheinbar. Fast alle Schüler der 7. Klasse können unbekannte Wörter lesen.

 

Ihre eigene Sprache wird ihnen genauso beigebracht. Als ich das Kannada-Alphabet gelernt habe, musste ich manchmal  bei einzelnen Buchstaben nachfragen. Mehrere Inder sind erst mal das halbe Alphabet durchgegangen, bevor sie mir sagen konnten, was das denn jetzt für ein Laut sei.

 

Übrigens: Man benutzt hier nicht die Vokabel "für die Schule lernen", vielmehr sagt man: "für die Schule lesen". Hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass man die Texte so lange laut vorliest, bis man sie halt kann.


Für jedes Fach haben die Kinder Lehrbücher. Manchmal sind zwei Fächer in einem Buch. Das lässt schon ahnen, dass die Layouts in jedem Fach genau gleich aussehen.

Überschrift, Text, vielleicht ein uriges Bild, Fragen. Immer der gleiche Schrifttyp, immer das gleiche Design. Ganz schön langweilig. Arbeitsauftrag der Lehrer: abschreiben. Man findet in den Schreibheften keine eigenen Ideen, keine eigenen Sätze, keine Unterschiede. Sie schreiben ordentlich, doch die Texte werden bei der Kontrolle einmal rot durchgestrichen. Bedeutet: sehr gut, alles abgeschrieben.

Die Kinder lesen, sagen auf, aber verstehen die Inhalte oft gar nicht.


 

Wie kann das funktionieren? Das Komische: Ich kann den Indern gar nicht richtig erklären wie das bei uns abläuft. Für uns macht ihr System keinen Sinn. Für sie machen unsere Lernmethoden wahrscheinlich noch weniger Sinn. „Man muss doch auswendig lernen, dass man ‚House‘ ‚Yetsh, Yo, Yu, Yes, I‘ buchstabiert. Das u und e höre ich doch nicht.“

 

Wir wollen das selbstständige Denken fördern. Hier legt man darauf keinen Wert. „Wozu selber formulieren?“, werde ich gefragt. Ein Teufelskreis. Bei den staatlichen Examen muss/soll man keinen eigenen Gedankengang entwickeln. Man kann die Examen aber auch nicht ändern, weil die Lehrer ja auch so gelernt haben und ihre Methoden wohl kaum von heute auf morgen ändern können. Die Kinder würden alle durchfallen.

 

Ich habe dazu mal einen Zeitungsartikel gelesen. Darin war die Rede von „Half-baked-Indians“, die zwar die Schule besucht haben, doch eigentlich überhaupt keine Ahnung haben. Der Autor beklagte:

 

Unser Land wird nie aufsteigen können, wenn wir nicht endlich beginnen kreativ zu sein. Schön und gut, wenn wir alles programmieren können und die besten Ingenieure haben. Doch wir brauchen auch Ideen. Derzeit kommen die Innovationen noch aus dem Ausland.

 

Sogar beim Kunstunterricht wird nur abgemalt. Da hat man einen Zettel mit vielen Reihen aus Kästchen. Im ersten ist jeweils ein Bild.

So muss ein Baum aussehen. Bitte 10 mal abmalen.

So malt man einen Vogel. Bitte 10 mal abmalen.